Szenen einer Ehe

von Quirin Pusch

 

Die Frau ächzte. Die Nacht hatte keine Abkühlung gebracht, schon in den frühen Morgenstunden war das Wetter drückend heiß. Über den Tag würde sich die Schwüle noch verstärken. Während sie stöhnte, hatte sich bereits die kleine Maschinerie im Kopf des Mannes in Gang gesetzt, mit der er sein Geld verdiente. Der schattige Balkon gewährte morgens als einziger Platz noch etwas frische Luft. Klaus Fullenhäuser versuchte seine Gattin davon zu überzeugen, die wenigen erträglichen Stunden zu nutzen. Er insistierte nicht, das machte sie erfahrungsgemäß misstrauisch. Trotzdem versuchte er mit dem Vorschlag, sich ihrer für ein paar Stunden zu entledigen, damit er ungestört arbeiten konnte.

Brigitte Fullenhäuser war nicht dumm, besaß jedoch eine gewisse Naivität. Sie konnte seine Arbeit nicht nachvollziehen. Damit stand sie nicht allein; den meisten ging es so, dass sie nicht verstanden, wie er arbeitete. Sie sahen das Ergebnis, bestaunten es gelegentlich, hatten hingegen keine Vorstellung, wie es entstand. Ihnen war das tägliche Ringen um Sätze oder gar einzelne Wörter nicht geläufig. Es fehlte ihnen das Gespür für die Dramatik, die sich hinter der Stirn des Schriftstellers abspielte. Die leichtfüßige Form eines Textes war Resultat eines zähen Kampfes. Lediglich eine Minderheit interessierte sich für diesen Prozess, für den Großteil der alphabetisierten Gesellschaft war er nicht der Rede wert. Der Vorgang war der Gemahlin zu abstrakt. Da Klaus genug las, würde das Schreiben nicht allzu schwierig sein. Sie sah darin nur eine Art Bündelung, die Raffinierung dahinter verkannte sie. Herr Fullenhäuser musste nicht einfach etwas einspeisen, damit sich bald ein Ergebnis zeigte. Es handelte sich nicht um einen mehr oder weniger simplen Filterprozess, bei dem er aus einer Unmenge an Gelesenem etwas Neues erschuf. Ziel war es, einem Gedanken seine ureigenste Gestalt zu verleihen. Der Weg dorthin war nicht immer geradlinig. Texte konnten Widerstände bieten, gegen die Herr Fullenhäuser wiederholt anlaufen musste. Wo sie nicht zu überwinden waren, war es seine Aufgabe gangbare Alternativen aufzudecken.

Es war nur logisch, dass Frau Fullenhäuser die Einsicht in ein eigenes Arbeitszimmer ebenfalls verwehrt blieb. Alle Zimmer der Wohnung waren Gemeinschaftsräume. Die Küche durfte Klaus auch dann betreten, wenn sie mehrere Töpfe zugleich beaufsichtigte und gleichzeitig Zutaten zurechtschnitt. Klaus hingegen verbat sich jegliche Störung in seiner Stube. Sie konnte sich nebenbei sogar unterhalten, was ihr ebenso beim Lesen möglich war. Klaus verlangte Stille, wenn er sich einem Buch widmete. Anstatt sich mit einem Notebook ins gesellige Wohnzimmer zu setzen, lebte Klaus wie ein Einsiedler in der gemeinsamen Unterkunft. Oft verkroch er sich in seinem Zimmer, vollgestopft mit Büchern, Papierstößen und bekritzelten Fetzen. Eine Ordnung der Blätter verbot er ihr. Bisweilen, musste Frau Fullenhäuser sich eingestehen, wirkte ihr Mann richtiggehend asozial. Herr Fullenhäuser verteidigte dagegen vehement seinen Rückzugsort. Er kannte die Angewohnheiten seiner Gattin zu gut, um sich aus der Reserve locken zu lassen. Den Ablauf der vermeintlich harmonischen Abende kannte er im Voraus: Nach einigen Minuten rücksichtsvoller Disziplin spricht seine Gattin ihn an. Aufgeschreckt fragt er nach: „Was hast du gesagt?“ – „Ach nichts; ich lass dich ganz in Ruhe arbeiten.“ Die Gedankenkette ist dabei bereits ausgesetzt. Daran anzuknüpfen dauert einen Moment. Kaum hat er seine Idee wieder aufgegriffen, wendet seine Gattin sich erneut an ihn. Er reagiert verwirrt, sie wiegelt ab, und das Muster, das hatte Herr Fullenhäuser durchschaut, wiederholt sich. Er bemühte sich nicht weiter, an der unterbrochenen Stelle einzusetzen. Ungehalten brummte er, was seine Gattin ermunterte, alle Schranken fallenzulassen und ihm detailliert die Neuigkeiten aus der Nachbarschaft zu erzählen. Deswegen bestand er auf dem eigenen Arbeitszimmer. Den Zweck hatte er gar nicht erst versucht ihr verständlich zu machen. Es war bereits ein schweres Unterfangen gewesen, die Beamten des Finanzamtes von der Notwendigkeit zu überzeugen.

Deshalb atmete er innerlich auf, als Brigitte sich auf seinen Vorschlag einließ, den Vormittag auf dem Balkon zu verbringen. Dennoch begab sich Herr Fullenhäuser nicht sofort an die Arbeit. Seine Aufschieberituale, wie seine Gattin es nannte, blieben ihr ebenso unerschlossen wie das Bedürfnis der Zurückgezogenheit. Während sich Frau Fullenhäuser mit einem Sitzkissen und einer Tasse Kaffee auf den Balkon verabschiedete, ging er ins Bad. Das kontemplative Zeremoniell beim Rasieren bot ihm ein Gleichgewicht von Konzentration und Ablenkung, wie er es für die mentale Vorbereitung auf das Schreiben benötigte. Mechanisch absolvierte er die Prozedur und stieß dabei gedanklich schon in andere Welten vor, die er nach seiner Vorstellung formen wollte. Unter den gewohnten Handgriffen stiegen die ersten Sätze empor und bildeten an der Oberfläche erste Inseln. Sie waren Ausgangspunkt für weitere Entdeckungen. Herr Fullenhäuser knipste das Licht über dem Spiegel an. Sofort erhellte sich das Profil eines Mannes unbestimmten Alters. Daneben verdoppelte sich das Badezimmer. Nur eine dünne Glasscheibe trennte die beiden sich überschneidenden/ berührenden? Welten. Was unterschied diese beiden Männer? Sie besaßen dasselbe krause Brusthaar, beide wiesen denselben Ring ehelicher Verbundenheit auf. Ihre Bewegungen waren synchron. Sie ließen Wasser ins Becken, benetzten damit die Wangen und schäumten sich ein. Die Klinge führten sie mit identischer Präzision. Der einzige Unterschied bestand darin, dass jener sich die linke, dieser die rechte Wange rasierte. Gerade rasierten sie sich unter dem Kinn, als sie eine schrille Stimme zusammenzucken ließ: „Schatz?! Bringst du mir meine Zeitschriften?“ Herr Fullenhäuser blickte sein Alter Ego regungslos an. „Scha-atz?“ Ungeniert rasierte sich sein Gegenüber weiter. Die Stimme nahm an Frequenz zu: „Schätzelchen! Was machst du denn? Bring mir doch meine Zeitschriften!“ In betonter Ruhe beendete er die Rasur.

Der Stuhl von Frau Fullenhäuser stand verlassen. Die Bänder des Sitzpolsters baumelten sachte in einer Brise. Ihr Ehemann blickte sich um, tat einen Schritt zurück in die Wohnung, rief nach seiner Frau. Der Ruf verhallte(, niemand antwortete). Er ging den Balkon entlang bis zu dessen Ende, wo eine Treppe hinunterführte. Von dort kam man um das Haus in den Hof, an der Haustür vorbei auf die Straße. Ein Blick um die Hausecke versicherte ihm, dass niemand hier war. Auf dem Weg zurück in die Wohnung fiel ihm ein Zettel auf dem runden Tischchen vor dem Stuhl auf. „Ich verlasse dich“, stand darauf. Ungerührt griff der Verlassene nach dem Sitzkissen und brachte es in den Abstellraum. Danach verschloss er die Balkontür, ließ die Jalousien bis auf wenige Schlitze hinab. Ruhig, doch zielstrebig schritt der Hausherr von Fenster zu Fenster und schloss die Rollläden. Es würde nicht lange dauern und die Sonne begänne ihr kaleidoskopisches Spiel zwischen den Lamellen. Abschließend ging er zur Haustür. Der Schlüssel von Frau Fullenhäuser hing unverändert an seinem Haken. Der Einsame nahm seinen Haustürschlüssel vom Bord, drehte ihn zweimal im Schloss und ließ ihn stecken.

Als hätte er sich über die Jahre auf diesen Augenblick vorbereitet, schlenderte er immer noch zielgerichtet in sein Arbeitszimmer, sammelte ein paar Utensilien sowie einen Stoß Bücher ein und trat damit in das geräumige Wohnzimmer. Gegen den Kauf des großzügigen Wohnzimmertisches war er nie gewesen. Ihm missfiel der Gebrauch: Auf dem schönen Holz trockneten Nagellackgläschen und Cremetuben vor sich hin. Daneben stapelten sich Zeitschriften über Mode und Kosmetik. Darunter befanden sich ein paar Bücher, indirekt empfohlen von den Bestsellerlisten eben dieser Magazine. Aus den zumeist schmalen Bändchen hingen Fetzen der Hochglanzpapiere als Lesezeichen. Wo keine Zeitschrift zur Hand gewesen war, waren die Seiten eingeknickt oder mussten Schminkpröbchen als Einmerker herhalten. Das edle Möbelstück glich einem Boudoirtisch. Mit einer Handbewegung befreite der Schriftsteller die dunkel gebeizte Platte. Er schob den verlogenen Schönheitsbedarf in die Öffnung eines Müllsackes. So lakonisch wie seine Frau konnte auch er reinen Tisch machen. Mit einem feuchten Tuch entfernte er die letzten Überreste des Missbrauchs. Dann begann er genussvoll seine Arbeitsmaterialien vor sich auszubreiten. Er zelebrierte die Vorbereitung in erwartungsvoller Spannung. Denn schon nach kurzer Zeit kritzelte er über das Papier, schuf Wort auf Wort, Satz nach Satz. Gedanke um Gedanke löste sich aus seinem Denkprozess und fand seine Form auf den Bögen. Abends zeichnete sich ein bemerkenswerter Stoß ab, trotzdem fühlte sich der Erlöste inspiriert genug, seine Arbeit fortzusetzen. Eine kleine Pause sollte seine Ideen in eine provisorische Reihenfolge bringen. Nach der Jause ließ er den Teller auf der Spüle stehen, ein Sakrileg für Brigitte Fullenhäuser. Der Alleinstehende achtete nicht weiter darauf, sondern widmete sich wieder seinem Text.

Allmählich dunkelte es. Er bemerkte es nur, weil die blaue Tinte auf dem Papier zu einem unleserlichen Grau verschwamm. Licht wollte er nicht unnötig anmachen. Bereits der Gedanke an die künstliche Beleuchtung vertrieb seine Motivation wie tagscheues Gesindel. Deshalb warf er nur noch ein paar Notizen auf den Block, damit er am nächsten Morgen an ihnen anknüpfen konnte. Im Schlafzimmer öffnete er die Fenster und ließ sich in wohliger Erschöpfung auf das Bett sinken. Die Jalousien waren weiterhin hinabgelassen, durch ihre Ritzen strömte jedoch angenehme Abendluft. Er atmete sie tief ein. Nach wenigen Zügen hörte er sein Herz pochen; erst ganz leise, dann deutlicher. Er konnte sich nicht erinnern, wann er es zuletzt so hörbar vernommen hatte. Es war möglich, ihm regelrecht zu lauschen. Er konzentrierte sich auf seinen Puls. Ihm fiel auf, wie merkwürdig metallen er klang. Mochte ein Herzschrittmacher bei seiner Arbeit, das Blut durch die Adern zu pumpen, solche Geräusche machen? Aber Herr Fullenhäuser hatte keinen Herzschrittmacher. Außerdem war das Klopfen beunruhigend unregelmäßig.

Er schreckte hoch. Am Rollladen pochte jemand zaghaft. Es wurde sogar der Versuch unternommen, die Lamellen hochzudrücken. Er wurde begleitet von Stöhnen und ärgerlichem Grummeln. Dann schlug die Person gegen die Jalousie und rief: „Schatz?! Wo bist du? Mach auf!“ Brigitte Fullenhäuser stand auf dem Balkon. „Mach auf, Schätzchen, hörst du!?“ Ihr Gatte blieb gelassen, versuchte sie aber zwischen den Rolloschlitzen zu erkennen. „Ich weiß, dass du da bist. Also mach auf!“ forderte sie nunmehr ungehalten. Er reagierte nicht und sie fing wieder an, gegen den Kunststoff zu schlagen. Dann steigerte sich ihr Unmut zu einem Trommeln. – „Hör auf damit! Sonst rufe ich die Polizei!“ – Brigitte Fullenhäuser musste erschrocken sein, denn für einen Augenblick rührte sich draußen nichts. Dann versuchte sie ihrem Mann zu schmeicheln: „Ach Schätzelchen, was hast du? Lass mich doch bitte rein.“ Sie säuselte, tat besorgt und bat wiederholt um Einlass. Als sie merkte, dass sie damit nicht zum Ziel kam, hämmerte sie wieder gegen die Barriere. Drinnen wiederholte seine Stimme die Drohung mit der Polizei. Die Gattin ließ sich nicht einschüchtern, sondern trat inzwischen gegen die Rollläden und belegte ihn mit Flüchen. Sie hatte nicht mitbekommen, wie er sich aus dem Schlafzimmer zurückgezogen hatte. Wahrscheinlich hätte sie lange weiter gezetert, wären nicht plötzlich zwei Beamte in grüner Uniform auf dem Balkon erschienen. Mit offenem Mund stand Frau Fullenhäuser vor den Jalousien. Auch auf Nachfrage, was hier vor sich gehe, reagierte sie nicht. Erst als die beiden Herren sie an den Armen packten, kehrte Leben in sie zurück. Sie haspelte eine Entschuldigung und versuchte gleichzeitig, sich aus den geübten Griffen zu winden. Sie sei ausgesperrt worden, wolle hinein. Ohne Gewalt, aber mit Nachdruck schoben die Polizisten sie über den Balkon, führten sie die Treppe hinunter, um das Haus herum zum Polizeiwagen, der am Straßenrand vor dem Grundstück parkte. Auf Höhe der Haustür schrie Brigitte auf: Ihr Mann stand im Rahmen der Tür. Er hatte tatsächlich die Polizei verständigt. Die Nachricht, ein dreister Einbrecher mache sich bei ihm zu schaffen, der sich durch keine Drohung vertreiben ließ, hatte die nächste Streife erreicht. In Erwartung eines gewaltbereiten Räubers waren die Polizisten auf die hysterische Frau gestoßen.

Der Hausbesitzer dankte und wollte gerade die Tür schließen, als seine Gemahlin plötzlich schrie: „Aber ich bin doch seine Frau!“ Die Sicherheitsbeamten hielten inne, wechselten einen Blick und einer von ihnen fragte: „Ist das ihre Frau?“ Klaus Fullenhäuser antwortete: „Nein, das ist nicht meine Frau. Ich habe diese Person nie zuvor gesehen.“ Damit drückten die Beamten die schluchzende Frau auf den Rücksitz des Dienstautos und nahmen vorne Platz. Das Fahrzeug setzte sich in Bewegung.

Noch bevor die Tür im Schloss klickte, zuckte Herr Fullenhäuser zusammen, weil ihm die Stimme seiner Gattin ans Ohr drang: „Schatz, was machst du denn!?“ Dann sah er sie schemenhaft vor sich. Sie kam auf ihn zu und er erkannte sie deutlich vor seinem Gesicht. Brigitte stand in der Badtür: „Warum bringst du mir nicht die Zeitschriften? Bist du noch nicht fertig mit dem Rasieren? Setz dich doch ein wenig zu mir auf den Balkon. Die Luft ist noch angenehm am Morgen; hast du selbst gesagt.“ Herr Fullenhäuser wehrte mit zu Schlitzen verengten Augen ab: „Ich muss arbeiten. Ich habe eine Idee für eine Geschichte.“

 

 

 

17. Juni 2014