Amtsgang

von Quirin Pusch

 

Er mochte keine Ämter. Es handelte sich um eine Bagatelle, trotzdem wartete er nicht ohne Unruhe auf den Aufruf. Er war eine Nummer. Er hatte nichts gegen Beamte, auch wenn sie bisweilen ihre Position ausspielten. Er mochte keine Abhängigkeiten. Abhängigkeit macht machtlos. Aber wer war von wem abhängig? Die Beamten waren die Rädchen im Uhrwerk der Bürokratie.

415.

Ein junger Mann gestikulierte am Schalter. Es schien sich ebenfalls um eine Lappalie zu handeln. Der junge Mann machte auf dem Absatz kehrt und fragte in die dürftige Runde, ob jemand seiner Nummer bedürfe. Er tauschte sie. Nun war er 413. Beherzte Selbstbeförderung.

Der Stuhl, eine ergonomische Plastikschale, drückte im Rücken. Müdigkeit legte sich wie ein Schleier über die Gänge des Amtes. Es war eine Nacht wie immer gewesen. Die Lider waren träge gewesen, der Körper sehnte sich nach Ruhe. Doch wälzte er sich im Bett hin und her. Die Laterne warf ihr fahl-gelbes Licht in das Zimmer. Womöglich hätte er so spät nichts mehr essen sollen.

Zum Lesen war er zu müde. Außerdem scheute er das grelle Licht. Er hechtete sich durch die Fernsehlandschaft.

Graumelierte Männer im Gespräch. Politik.

Männer, die einem Ball hinterherrennen. Fußball.

Schwarz-weiß Aufnahmen. Ein Helikopter überfliegt eine tropische Landschaft. Schnitt. Die Landschaft zieht unter den Kufen vorüber. Eine Bordkanone ragt ins Bild.

Gelächter. Eine Person vor Publikum. Comedy.

Ein Menschenknäuel auf dem Rasen. Tor.

„Ich kam nach Hause, meine Frau lief nackt durchs Haus. Ich so: ‚Schatz! Du hast ja gar nix an.‘ – ‚Doch‘, sacht sie, ‚ich trage das Kleider Natur.‘ – ‚Ich heb nur so ne Augenbraue und sage: ‚Schatz, das is schön und gut, von mir aus kannst du es so oft tragen wie du willst. Aber du hast vergessen es zu bügeln.‘“

Ernste Gesichter, als ein Graumelierter einen anderen Graumelierten kristiert.

Die zehnte Wiederholung des Treffers.

Aus dem Helikopter springen Soldaten. Wieder Flug über Reisfelder und Dschungel. Die Kamera auf Höhe der Waffe. 6-läufig, rotierend, 5000 Schuss pro Minute. Search and Destroy. Das Mündungsfeuer blitzt über den flachen Wassern.

            Fast 550.000 Soldaten auf der einen, 2 Mio. auf der anderen Seite.

Die Propeller schlagen den Takt. Die Kanone mäht ins Dickicht.

            „Do you smell that?... That’s Napalm!...I love the smell of Napalm in the morning.“

Am Ende waren es ca. 58.000 auf der einen und 1,3 Mio. auf der anderen Seite.

            Sein Kopf ruhte auf dem Ellbogen.

Sie führen einen Mann durch die Stadt. Seine Hände sind auf dem Rücken gefesselt. Sie halten an. Der Anführer hebt seine Armeepistole an seine Schläfe und drückt ab.

            Kein Zögern.

Der Schädel birst, die Knie knicken weg, der Körper sackt in sich zusammen. Aus der Schädeldecke sprudelt wie bei einem Wasserspender die dunkle Flüssigkeit und bildet eine Lache auf dem Teer.

            Stopp – Pistole – Schuss – Körper – Lache.

Nummer 413, Zimmer 4. Die gelangweilte Beamtin verlangte den Personalausweis, schrieb Zahlen auf, stempelte Formulare, er verließ die Stube.

Er war ungünstig gekleidet: kurze Hose, kurzes Hemd. Es war frisch. Es zog durch die Sandalen. Es begann zu tröpfeln.

Ein Schuss. Ohne Vorwarnung.

Die Luft im Zimmer war noch stickig von den heißen Tagen.

            Auf dem Asphalt ein Sack aus Fleisch und Knochen.

Er zog sich um und machte sie wieder auf den Weg.

 

 

26. Juli 2004

 

24. April 2023